Wer sei­nen Mau­ri­ti­us-Urlaub ledig­lich im Hotel ver­bringt, ver­passt vie­les. Annet­te Wild ver­öf­fent­lich­te die­sen wun­der­ba­ren und aus­führ­li­chen Arti­kel bereits 2001. Und auch Jah­re spä­ter hat er nichts an Aktua­li­tät, Esprit und Charme verloren. 

Laut, aber lang­sam” von Annet­te Wild

Wei­ße Para­dies­vö­gel glei­ten ele­gant über die satt­grü­ne tro­pi­sche Land­schaft. Gleich, so erwar­tet man, wird ein spär­lich beklei­de­ter, mus­ku­lö­ser Mann kraft­voll und anmu­tig den Was­ser­fall hin­un­ter in das sma­ragd­grü­ne Was­ser des natür­li­chen Bas­sins sprin­gen. Doch nein, das ist kein TV-Wer­be­spot für ein Dusch­gel mit exo­ti­scher Duft­no­te, und so steht da am Abgrund kein Ado­nis, son­dern eine klei­ne Gestalt in einem Neo­pren­an­zug mit einem roten Plas­tik­helm auf dem Kopf und einem Gurt aus Haken und Sei­len um die Hüften.

Good luck, honey“, ruft ein etwas ent­fernt ste­hen­der Mann in bei­gen Ber­mu­da­shorts mit einer Video­ka­me­ra vor dem Gesicht. In dem qua­dra­ti­schen Aus­schnitt der Welt sieht er sei­ne Frau Lin­da an dem Fels­ab­satz ste­hen und eben noch fröh­lich in die Kame­ra win­ken. Jetzt dreht sie sich lang­sam um. Viel­leicht hät­te sie das nicht tun sol­len. Denn nun, da ihr Blick mit dem hin­ter und unter ihr her­ab­stür­zen­dem Was­ser 35 Meter senk­recht in die Tie­fe fällt und ihr bewusst wird, dass auch sie die­sen Weg gehen bezie­hungs­wei­se klet­tern soll, sieht sie plötz­lich nicht mehr ganz so ent­schlos­sen aus. Für die Lin­se ihres Man­nes ver­sucht sie ein schwa­ches Lächeln. Viel­leicht schießt Lin­da in die­sem Augen­blick durch den Kopf: „Was mache ich hier eigentlich“?

Lin­da und Robert sind zwei der jähr­lich etwa 600.000 Gäs­te der Insel Mau­ri­ti­us im Indi­schen Oze­an. Die bei­den sind auf Hoch­zeits­rei­se und haben eine Juni­or­suite im neu eröff­ne­ten Fünf-Ster­ne-Hotel „Din­a­ro­bin“ im Süd­wes­ten der Insel gebucht. Mau­ri­ti­us ist kein Ziel für einen güns­ti­gen Kurz­ur­laub, da es kei­ne Charter‑, son­dern nur Lini­en­flü­ge auf die Insel gibt. Obwohl man auch immer häu­fi­ger klei­ne Pen­sio­nen und preis­güns­ti­ge Appar­te­ments fin­det, in denen man sich selbst ver­sor­gen kann, wird seit 1970 vor allem der Tou­ris­mus der Luxus­klas­se gefördert.

Hoch schlägt das Touristenherz

Lin­da und Robert sind zufrie­den mit der Wahl ihrer Unter­kunft, bie­tet das Hotel doch alles, was das anspruchs­vol­le Tou­ris­ten­herz höher schla­gen lässt. Auf dem 20 Hekt­ar gro­ßen Are­al zwi­schen 18-Loch-Golf­platz, drei Ten­nis­plät­zen und dem Meer sind 172 Sui­ten weit­räu­mig in Cha­lets ver­streut, was Ruhe und Abge­schie­den­heit für Frisch­ver­mähl­te garan­tiert. Die Bun­ga­lows mit Veran­da sind sogar so groß­zü­gig auf dem Gelän­de ver­teilt, dass man in klei­nen Elek­tro­au­tos von sei­ner Suite zum Kern­kom­plex der Anla­ge kut­schiert wird. Dort fin­det man die Hotel­lob­by im Kolo­ni­al­stil und den gro­ßen, ova­len Pool, der durch in den Stein ein­ge­las­se­ne Kris­tal­le immer exakt im sel­ben Blau wie der sich hin­ter ihm erstre­cken­de Oze­an schimmert.

Sanft lau­fen die Wel­len an dem glei­ßend wei­ßen Puder­sand­strand aus, denn die Bucht ist durch ein Koral­len­riff geschützt. Um Stress und Hek­tik völ­lig ver­schwin­den zu las­sen, kann man sich in blub­bern­den Meer­salz­was­ser­ba­de­wan­nen von einem gan­zen Batail­lon wun­der­schö­ner Bade­meis­te­rin­nen des Spa-Kom­ple­xes bear­bei­ten las­sen. Und doch, trotz all die­ser Annehm­lich­kei­ten ver­lan­gen die bei­den Honey­moo­ner nach ein paar Tagen nach mehr. Sicher­heit und Ruhe sind wohl bis­wei­len die Geschwis­ter der Lan­ge­wei­le. Und so sehen sich Lin­da und Robert schließ­lich nach aus­ge­fal­len Akti­v­an­ge­bo­ten wie dem Absei­ling um.

Nicht alle Mau­ri­ti­us-Gäs­te ver­langt es nach einem Adre­na­lin­stoß, den so ein Klet­ter­aben­teu­er ver­spricht. Vie­le Rei­sen­de reizt viel­leicht das Pri­ckeln – allein der Zwei­fel an ihrer kör­per­li­chen Fit­ness lässt sie viel­leicht schon von dem Vor­ha­ben Abstand neh­men. Weni­ger Toll­küh­nen bie­ten Moun­tain­bike-Tou­ren die Mög­lich­keit, Abwechs­lung in den Urlaubs­all­tag zu brin­gen und ver­bor­ge­ne Sei­ten der Insel zu ent­de­cken. Vom „Din­a­ro­bin“ im Süd­wes­ten zum Bei­spiel gibt es eine schö­ne Rad­tour Rich­tung Süden die Küs­te ent­lang, vor­bei an dem ein­drucks­vol­len Berg­bro­cken Le Morne.

Die Mau­ri­tier sind ein Pick­nick-Volk. Und so sieht man, vor allem sonn­tags, zwi­schen den Nadel­bäu­men an den lan­gen Sand­strän­den die bun­ten Vier­ecke der Pick­nick­de­cken schim­mern, auf denen manch­mal eine gan­ze Groß­fa­mi­lie Platz fin­det. Hier macht man Men­schen mit den unter­schied­lichs­ten Haut­far­ben aus, denn Mau­ri­ti­us hat eine wech­sel­haf­te Geschich­te zu erzäh­len: Als ers­te Euro­pä­er ent­deck­ten die Por­tu­gie­sen 1505 die Insel. Spä­ter war sie von den Hol­län­dern, dann bis 1810 von den Fran­zo­sen und schließ­lich hun­dert Jah­re spä­ter von den Eng­län­dern besetzt. Skla­ven wur­den vom afri­ka­ni­schen Fest­land geholt und Plan­ta­gen­ar­bei­ter aus Indien.

Fast 70 Pro­zent der etwa 1,2 Mil­lio­nen Ein­woh­ner in Mau­ri­ti­us sind indi­sche Ein­wan­de­rer. Dane­ben leben auf der Insel Kreo­len mada­gas­si­scher und afri­ka­ni­scher Her­kunft, Chi­ne­sen und Euro­pä­er. Deut­lich fällt an den Strän­den ins Auge, dass es viel mehr Frau­en auf Mau­ri­ti­us gibt als Män­ner. Etwa vier­mal so vie­le. Des­halb herrscht unter hei­rats­wil­li­gen Frau­en fast schon ein Geran­gel um einen Bräu­ti­gam. Für jene, die mit 30 noch nicht unter der Hau­be sind, sei es so gut wie aus­sichts­los, noch einen Mann zu fin­den, sagen die Mauritier.

Rei­ches Land, armes Volk

Nur sel­ten fin­den Urlau­ber wie Lau­ra und Robert den Weg in das bun­te Well­blech-Fischer­dorf Baie du Cap, obwohl es nur etwa zehn Kilo­me­ter vom Hotel „Din­a­ro­bin“ ent­fernt längs des Stran­des und der Stra­ße im Süd­wes­ten der Insel liegt. Eigent­lich scha­de, fin­det man doch gera­de hier ein Stück ech­tes mau­ri­ti­sches Lebens­ge­fühl, das geprägt ist von Lebens­freu­de, aber auch Armut.

Obwohl Mau­ri­ti­us dank des Zucker­ex­ports – über 90 Pro­zent der land­wirt­schaft­li­chen Erwerbs­flä­che nimmt das Zucker­rohr ein –, einer stark expor­tie­ren­den Tex­til­in­dus­trie und des Tou­ris­mus eines der wohl­ha­bends­ten Län­der Afri­kas ist, sieht man im Dorf kaum Stein­häu­ser. Sowohl der Grund als auch das Bau­ma­te­ri­al sind teu­er. Etwa 400 Qua­drat­me­ter Grund­stück kos­ten umge­rech­net 50.000 Mark, ein Haus noch ein­mal so viel. Zu viel für die Fischer in die­sem Ort.

Da der Boden teu­er ist, wird jedes Fleck­chen opti­mal genutzt. Kein Haus, das nicht einen klei­nen Gemü­se­gar­ten besä­ße, kaum ein Gar­ten ohne Lychee­baum. So ver­sor­gen die Fami­li­en sich selbst, ver­su­chen aber häu­fig auch, durch den Ver­kauf von Obst und Gemü­se ein paar Rupi­en dazu­zu­ver­die­nen. Auf Mau­ri­ti­us gibt es einen sehr engen Fami­li­en­zu­sam­men­halt. Fast nie­mand lebt allein, meist ver­sam­meln sich unter einem Dach drei bis vier Gene­ra­tio­nen. Schutz­pa­tro­ne in klei­nen Andacht­stät­ten vor den Häu­sern sol­len die Fami­lie vor Unglück bewah­ren. Vor hin­du­is­ti­schen Haus­hal­ten sind zusätz­lich rote Fah­nen ange­bracht, die, wenn sie im Wind flat­tern, böse Geis­ter ver­trei­ben sollen.

Die Men­schen von Baie du Cap sind spon­tan freund­lich, begrü­ßen den Neu­an­kömm­ling mit Hand­schlag. Jeder spricht Fran­zö­sisch, annä­hernd jeder Eng­lisch. Euro­pä­er reagie­ren auf die­se Freund­lich­keit oft mit Miss­trau­en. Aber Mau­ri­ti­us hat eine äußerst gerin­ge Kri­mi­na­li­täts­ra­te. Die vie­len Kin­der sprin­gen auf­ge­regt am für sie exo­ti­schen Frem­den hoch, zup­fen einen hier und da und müs­sen alles genau inspi­zie­ren. Sie las­sen erst ab, als sie die ohren­be­täu­ben­de elek­tro­ni­sche Jing­le-Bells-Melo­die hören, mit der sich der bun­te Eis­wa­gen „Flo­ren­ti­ne“ schon von wei­tem ankündigt.

Die Väter der Kin­der, die Fischer, haben heu­te frei. Des­halb sit­zen sie am Meer und spie­len Domi­no oder trin­ken ein Bier. Ob man sich dazu­ge­sel­len möch­te? Gern! Wozu die Eile? Zeit ist hier ein unbe­deu­ten­der Fak­tor. Und wer kei­ne Eile hat, der hat Zeit für Erin­ne­rung und die eige­ne Historie.

Einer der Män­ner erzählt die Geschich­te des impo­san­ten, über 500 Meter hohen Le Mor­ne, des­sen Mas­siv man auch noch vom Strand aus bewun­dern kann. Geflo­he­ne Skla­ven hiel­ten sich in dem schwer zugäng­li­chen Berg­ge­biet auf. Als uni­for­mier­te bri­ti­sche Poli­zis­ten ihnen die Nach­richt vom Ende der Skla­ve­rei über­mit­teln woll­ten, stürz­ten sie sich aus Furcht vor dro­hen­der Ver­haf­tung und neu­en Qua­len in die Tie­fe. Die meis­ten Bewoh­ner von Baie du Cap stam­men wohl von Skla­ven ab. Denn als die­se 1835 end­lich frei waren, woll­ten sie nicht wie­der in Zucker­rohr­fa­bri­ken für eine ande­re Herr­schaft malo­chen, son­dern so selbst­stän­dig und unab­hän­gig sein wie nur mög­lich. Also wur­den sie Fischer.

Einer der Domi­no­spie­ler springt eben über die Stra­ße zum „Super­markt“, um Bier zu holen. Auf Mau­ri­ti­us gibt es über­all klei­ne Kolo­ni­al­wa­ren­la­den mit klang­vol­len Namen wie „Miami Store“, „Roy­al Store“ oder „Mill­en­ni­um Store“. Das Sor­ti­ment reicht von Näh­garn über Plas­tik­ma­don­nen, Klei­dung, Wasch­mit­tel bis hin zu Rum. Der Rum wird auf der Insel aus Zucker­rohr gebrannt und ist Natio­nal­ge­tränk. Die­se Läden bedie­nen vor allem den Bedarf der Ein­hei­mi­schen. Urlau­ber zieht es zu Shop­ping-Tou­ren vor allem nach Port Lou­is, der Haupt­stadt im Nord­wes­ten der Insel. Gar kein Pro­blem, dort­hin zu kom­men, denn Mau­ri­ti­us ver­fügt über ein her­vor­ra­gen­des Bus­sys­tem. Ungleich kost­spie­li­ger ist der Spaß, den sich Lau­ra und Robert leis­ten: ein Miet­wa­gen samt Chauf­feur. Die­ser Luxus kos­tet 3350 Rupi­en, umge­rech­net etwa 250 Mark am Tag.

In den Stra­ßen und Gas­sen der 130.000 Ein­woh­ner zäh­len­den Stadt Port Lou­is herrscht enor­mer Ver­kehr. Trotz­dem ist auch dies kein Ort der Hek­tik. Das Leben ist hier laut, aber lang­sam. Beson­ders laut im Her­zen der Stadt, auf dem Markt, wo es quir­lig zugeht. Alle mög­li­chen Spra­chen, alle mög­li­chen und unmög­li­chen Gerü­che. Markt­schrei­er prei­sen ihre Ware an, Obst, Gemü­se, Fleisch, Fisch, Tex­ti­li­en und Tou­ris­ten­sou­ve­nirs. Auf dem Fleisch­markt kann man zuse­hen, wie Häh­ne frisch geschlach­tet wer­den. Schwei­ne­fleisch fin­det man aus Respekt vor den Regeln des Islam in einem sepa­ra­ten Kom­plex inner­halb der Fleisch­markt­hal­le. Schil­der war­nen Gläu­bi­ge vor dem Eintreten.

Nicht nur Lie­be geht durch den Magen – auch der Flirt mit einem exo­ti­schen Land beginnt oft mit einem Gau­men­reiz. Daher ver­sucht die Tou­ris­mus­in­dus­trie auf Mau­ri­ti­us mitt­ler­wei­le, den Urlau­bern die loka­le Küche nahe zu brin­gen. Rei­se­agen­tu­ren wol­len zei­gen, dass es hier nicht nur Sand, Meer und Pal­men gibt, son­dern auch eine gewach­se­ne Kul­tur und eine bemer­kens­wer­te Infra­struk­tur. So orga­ni­sie­ren sie Aus­flü­ge ins Bin­nen­land, auf Tee­plan­ta­gen, zu Tem­peln, zu Fabri­ken wie einer Mani­ok-Keks­fa­brik oder einer Rum­de­stil­le­rie. Und eini­ge Agen­tu­ren bie­ten sogar an, an einer Mahl­zeit in mau­ri­ti­schen Fami­li­en teil­zu­neh­men. Die Mau­ri­tier sel­ber gehen nicht gern aus zum Essen. Sie kochen lie­ber zu Hau­se und laden Freun­de ein. Daher fin­det man außer­halb der Hotels nur weni­ge Restaurants.

Flirt mit Maniok-Keksen

Bei dem indisch­stäm­mi­gen Gast­ge­ber Surup­jit Lall­jee sitzt man mit ande­ren Urlau­bern im Wohn­zim­mer am gedeck­ten Tisch eng bei­ein­an­der. Hin­ter ihm in der glä­ser­nen Vitri­ne ist das ein­drucks­voll über­ein­an­der geschich­te­te Fami­li­en­sil­ber zu bewun­dern. Zum Essen, erklärt der Haus­herr, gebe es eine tra­di­tio­nel­le Hin­du-Mahl­zeit: Chi­li­ca­ke – für die Tou­ris­ten ohne Chi­li – Brot, Reis, Weiß­kraut, Chi­cken­cur­ry, dick ein­ge­koch­ten Toma­ten­su­go und Chi­li-Pick­les. Geges­sen wird mit der rech­ten Hand, getrun­ken wird der 40-pro­zen­ti­ge Good­will- Rum. Doch Herr Lall­jee, der ohne­hin sehr aske­tisch wirkt, darf heu­te aus reli­giö­sen Grün­den kei­nen Alko­hol trin­ken. Er sei sehr gläu­big und vor sei­ner Pen­sio­nie­rung hin­du­is­ti­scher Pries­ter gewe­sen. „Es kommt vor“, erzählt der Gast­ge­ber, „dass Hin­dus am katho­li­schen Got­tes­dienst teil­neh­men und umge­kehrt. “ Es herr­sche gegen­sei­ti­ger Respekt und manch­mal sogar Austausch.

Auf Mau­ri­ti­us exis­tie­ren 87 Reli­gio­nen neben­ein­an­der. Auf einer Flä­che, die nicht grö­ßer ist als die des Saar­lands, sind Euro­pa, Indi­en, Chi­na und Afri­ka fried­lich ver­eint. An Herrn Lall­jees Tisch sit­zen auch die unter­schied­li­chen Urlau­ber ganz ein­träch­tig zusam­men, unter ihnen Lin­da und Robert. Ein gutes ein­hei­mi­sches Essen mit einem Schluck Rum fin­det wohl nicht nur Lin­da viel ange­neh­mer und weni­ger gefähr­lich als das Absei­ling-Aben­teu­er. Nur soll­ten sie nicht so unvor­sich­tig sein und von den Chi­li-Pick­les kosten.