Die Journalistin Antje Allroggen lebt mit ihrer Familie ein halbes Jahr lang auf der Insel Mauritius. Die jüngste Tochter geht dort in den Kindergarten, die ältere besucht eine internationale Schule – und fährt jeden Tag mit dem Schulbus über die Insel.

Die kleine Freya und die grüne Palme
Alltag auf Mauritius aus Kindersicht

Von Antje Allroggen

Morgens früh um sechs beginnt unser Tag auf Mauritius. Schon eine halbe Stunde vorher hören wir die ersten Vögel in verschiedenen Tonarten singen. Wenige Minuten später sind wir alle wach. Die Sonne scheint kräftig durch die weißen Leinenvorhänge unserer Fenster, nichts hält uns mehr im Bett.

Nur Freya macht das Aufstehen jeden Morgen zu schaffen. Sie weiß, dass ein langer Tag in der Schule auf sie wartet. An das französische Schulsystem mit seinen straff geregelten Unterrichtseinheiten, die wenig Platz für Freiarbeit, Pausen und AGs lassen, wie es an Freyas deutscher Schule der Fall ist, kann sie sich nicht so recht gewöhnen.

„Es geht. Ich mach morgens einen ziemlichen Aufstand, weil die Schule, die verplempert fast den ganzen Tag, sag ich dann immer, und ich lerne da sowieso nichts, das ist dann ein bisschen übertrieben. Aber trotzdem, es stimmt schon ein bisschen, dass die den ganzen Tag verplempert. Ich war das noch nie gewohnt, in Deutschland ist ja nicht so lange Schule wie hier.“

Jeden Morgen begleiten wir Freya, bekleidet mit ihrer Schuluniform – einem dunkelblauen Jeansrock und einem weißen Polohemd mit einer grünen Palme als Emblem – zur sandigen Einfahrt unserer Wohnanlage, vor der der Busfahrer mit beinahe preußisch anmutender Pünktlichkeit um 7.15 Uhr auf sie wartet. Wenn wir einige Minuten zu früh dort angekommen sind, haben die Kinder Zeit, um einige Hülsenfrüchte des Tamarindenbaumes vom Boden aufzusuchen, der vor dem Haus unserer Nachbarn steht.

Bernadette, die Verwalterin der Wohnanlage, hatte unseren Töchtern gezeigt, wie man die etwa 20 cm langen dunklen Hülsen des gewaltig großen Baumes öffnen und das schwarze Fruchtfleisch essen kann. Freya und Franzis mögen den Geschmack der indischen Sauerdattel, die hier auch zum Kochen verwendet wird, so gerne, dass sie sie gelegentlich in ihre Frühstücksdose stecken.

Wenn der Busfahrer vor unserer Einfahrt stehen bleibt, grüßt er jeden Morgen gleich bleibend freundlich. Für Freya ist ihr Busfahrer der netteste Busfahrer der Insel. Und ich glaube, sie hat recht damit. Jeden Morgen trägt er ein sauberes weißes Hemd, das mit seinen weißen Zähnen in seinem tief gebräunten jungen Gesicht um die Wette strahlt. Und wenn wir einmal nicht pünktlich sind, erinnert er uns mit einem Handy-Anruf daran, dass er auf Freya in unserer Einfahrt wartet.

Nicht viele Kinder nehmen vom Angebot der Schulbusse Gebrauch. Besonders die Familien, die aus Kenia nach Mauritius gekommen sind, haben das dortige Transportsystem in schlechter Erinnerung. Dort soll es nicht selten passieren, dass selbst die Schulbusfahrer volltrunken unterwegs sind. Freyas Busfahrer hat vor acht Jahren seine Schulausbildung abgeschlossen, seitdem transportiert er die Kinder von Grand Baie nach Mapou. Das frühe Aufstehen mache ihm überhaupt nichts aus. Jeden Morgen sei er um fünf Uhr auf den Beinen, um zu beten, nur samstags und sonntags gönne er sich eine Ausnahme.

Freya fährt gerne mit dem Bus von Grand Baie, unserem Wohnort, ganz im Norden der Insel gelegen, bis nach Mapou, etwa 15 Kilometer weiter südlich von der Küste entfernt. Dort befindet sich ihre Schule. Die Fahrt dauert etwa 30 Minuten. Schon in Deutschland hatte sie sich sehr auf diese Busfahrten gefreut. Das mag daran liegen, dass in Bonn fast alle Kinder aus Freyas Schule zu Fuß gehen, viele werden dabei noch bis ins dritte Schuljahr hinein an den Händen ihrer Mütter oder Väter begleitet. Auch nach ihren ersten vier Wochen auf Mauritius fährt Freya noch immer gerne mit dem Bus.

„Das erste Mal, da hab ich mich einfach an einen leeren Platz gesetzt und hab mich noch nicht mit denen unterhalten, sondern hab einfach nach draußen geguckt, weil das total schön war, wenn man dann im Bus sitzt und dann einfach nach draußen guckt. Ich seh das Meer an manchen Stellen, viele Bäume, es gibt so einen Platz, wo sehr viele Bäume stehen, und direkt dahinter ist das Meer, aber manchmal fährt man durch Gegenden einfach, wo nur ganz normale Häuser stehen. Man könnte beinah meinen, dass man in Bonn ist, aber dann hat man doch so ein bisschen das Gefühl, dass man in einem anderen Land ist, weil die Häuser ein bisschen anders aussehen. Die haben zum Beispiel Stacheldrahte oder so Festungen, damit keiner einbricht. Und eine, die hat sogar eine Bambusschiebetür. Da hängen dann ganz viele Bambusstäbe dran. Und das ist schon anders. Man fährt auch ganz viel an Zuckerfeldern entlang, und manchmal sind da auch nur ein Stück voll Bäume, sonst sind das auch einfach normale Straßen. Da stehen dann manchmal auch Palmen. Oder man sieht ein Tor, wo indische Elefanten drauf stehen. Und einen indischen Tempel.“

Dieser Schulbus fährt nicht gerade durch die ärmsten Wohngegenden Mauritius‘, wenn er sich auch, wie überall auf der Insel, um streunende Hunde vorbeischlängeln muss, die träge auf der Straße liegen und manchmal erst bereit sind aufzustehen, wenn der Autofahrer auf die Hupe drückt. Die Kinder, die einsteigen, kommen fast alle aus Frankreich oder Belgien. Sie wohnen in Häusern, die sich die Einheimischen der Insel wohl schwerlich leisten könnten. Hohe Mauern, teilweise sogar Videokameras schützen die Bewohner vor neugierigen Blicken und sollen Einbrecher abschrecken, die nicht selten die Gelegenheit ergreifen, ein offen stehendes Fenster zu öffnen, um alles, was ihnen wichtig und wertvoll erscheint, mitzunehmen. Der Schulbus fährt alle Kinder zur Ecole du nord, einer privaten internationalen Schule auf Mauritius.

Gerade sind wir in Mont Choisy, einem weiteren sehr gepflegten Wohnort in direkter Strandnähe vorbeigefahren, dann biegt der Fahrer in eine kleine Seitenstraße ein und hält an dem Haus mit der Bambusschiebetür. Ein etwas schüchternes Mädchen steigt dazu. Julie, ein anderes Mädchen, das in der Ecole du nord in die Troisième geht, was dem neunten Schuljahr in Deutschland entspricht, blickt uns interessiert an. Sie ist vor zehn Jahren aus Frankreich mit ihren Eltern nach Mauritius gekommen. An Freyas erste Busfahrt vor wenigen Wochen erinnert sie sich noch genau:

„Wir haben versucht, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Wir wollten sie näher kennen lernen und erfahren, wie sie heißt, und wie es gekommen ist, dass sie hier auf Mauritius ist. Das ist anfangs nicht einfach gewesen, weil Freya ja nur deutsch spricht. Aber allmählich fängt sie jetzt an, einige Wörter auf Französisch zu sagen.“

Während sich alle im Bus angeregt unterhalten, fahren wir an Zuckerfeldern entlang, die seit Jahrhunderten die Landschaft der Insel prägen. Bazil, ein zwölfjähriger blonder Junge, der seit zehn Jahren mit seiner Familie auf Mauritius lebt, bedauert, dass sich das Bild der Insel langsam verändert:

„Es ist schade, weil sie angefangen haben, viele Einkaufszentren zu bauen, man sieht auf der Strecke nicht mehr viele Häuser, sondern viele Baustellen, die die Landschaft langsam verschandeln. Als ich hier ankam, gab es noch nicht einmal den Super U-Supermarkt, sondern nur drei ganz kleine Läden. Wir haben einfach viel Fisch damals gegessen.“

Ein bisschen sei das Leben da so wie in früheren Zeiten gewesen, fügt sein älterer Bruder Oskar noch hinzu. Einige Minuten führt der Weg immer geradeaus an den Zuckerfeldern entlang. Wenige Meter von der einzigen großen Nationalstraße des Landes entfernt liegt plötzlich das Schulgelände. Die Kinder verabschieden sich vom Schulbusfahrer, er erwidert die Verabschiedung, wenn es sein muss, sogar auf Deutsch:

„Ok? Tüss!“
„Guck Mama, das kann er schon sagen.“

Die Schule wurde vor etwas mehr als 30 Jahren von Franzosen gegründet. Damals wurde sie in das repräsentative Kolonialhaus eines ehemaligen Zuckerrohrplantagenbesitzers hineingebaut, anschließend folgten immer wieder Anbauten. Heute befindet sich im ehemaligen Kolonialhaus das Verwaltungsgebäude der Schule. Von diesem Gebäude zweigen zwei Achsen ab, an die sich Klassenräume reihen. Zwischen den beiden Achsen bildet ein Innenhof mit wunderschönen Blumen und Palmen das Herzstück des Geländes.

Kurz nachdem alle Kinder den Schulhof verlassen haben und in ihre Klassenzimmer gegangen sind, streift Philippe Donadieu, der Direktor der Grundschule der Ecole, über das Gelände. Vor seinem Verwaltungsgebäude steht ein Flammenbaum, der im November langsam seine grünen Blätter in feurig rote eintauscht. Davor befindet sich ein Rondell, bepflanzt mit kleinen Palmen. Rechts zieren das Gebäude drei stattliche Flaggen: die mauritische, die europäische und die französische. Wenn Philippe Donadieu nicht gerade mit seinem Handy telefoniert – in seinem Büro habe er leider keinen Empfang, erklärt er -, holt er sich einen Kaffee aus der Kantine. Zahlreiche zitronengelbe und rote Vögel begleiten ihn dabei und fliegen in ihre Nester, die man hoch oben in den Bäumen sehen kann. Ein kleines Paradies. Als Beamter des französischen Staates wurde Philipe Donadieu für fünf Jahre nach Mauritius entsandt.

„Es ist schrecklich, aber man gewöhnt sich daran, dass die Ecole du Nord einfach ganz außergewöhnlich schön gelegen ist. Sie gehört sicherlich zu den französischen Schulen im Ausland, die am meisten Platz haben und über viele Grünanlagen verfügen. Darauf legt man hier ganz besonderen Wert. In diesem Jahr nimmt unsere Schule am Programm Öko-Schule teil. Da geht es um das Thema Biodiversität. Wir wollen regelmäßig endemische Pflanzen anzubauen. Es stimmt, es ist ein sehr friedlicher Ort hier. Übrigens sind die Kinder an dieser Schule sehr viel disziplinierter, als es häufig an anderen Schulen der Fall ist. Ich denke, das liegt auch an der Weitläufigkeit der Anlage, das trägt sehr dazu bei.“

Ein kleines Paradies, das an das Mauritius erinnert, wie es die ersten Kolonialherren vor mehr als 450 Jahren vorgefunden haben. Wenn Freya aufmerksam aus ihrem Schulbusfenster blickt, sieht sie allerdings auch Wellblechhütten, an denen sie tagtäglich auf dem Weg zur Ecole du Nord vorbeifährt. Und so streift man als temporärer Gast der Insel viele Leben, die hier eng beieinander zu liegen scheinen.

Nicht umsonst heißt der Kindergarten, den Franzis besucht, Ile aux enfants, Kinder-Insel. Auch diese Einrichtung liegt inmitten einer Wohngegend, in der es irgendwann zahlreiche kleine Tabakgeschäfte und Cafés gegeben haben muss; die Beschriftung an den Hauswänden erzählt noch ein wenig davon. Jetzt beleben die Kinder der Ecole Maternelle das Viertel wieder. Morgens hängt sich Franzis ihre kleine rot-orangefarbene Kindergartentasche um und kann es gar nicht erwarten, bis sie mit ihren kleinen „Copines“ spielt, die aus Mauritius, Kenia, Südafrika und Frankreich kommen.

Bevor wir unsere Reise nach Mauritius antraten, hatten wir vor allem Sorge um Franzis, ob sie sich in dieser Umgebung wohl fühlen würde. Schließlich beherrscht sie mit ihren zwei Jahren selbst in ihrer Muttersprache immer noch nicht mehr als kleine Zweiwortsätze. Während wir in Deutschland wegen dieser Ängste längst schon empfohlen bekommen hätten, einen Logopäden aufzusuchen, erfahren wir hier, wie Franzis vorgelebt bekommt, was die Mauritier akrobatisch beherrschen: sich zwischen den unterschiedlichen Kulturen hin- und herzubewegen, und sei es auch ganz nonverbal. Sandrine, eine der beiden Leiterinnen des Kindergartens, beschreibt Franzis‘ Kindergartenerlebnis der vergangenen Wochen so:

„Sie versteht nicht, was man ihr genau sagt, deshalb verfolgt sie sehr aufmerksam die Gesten, die wir machen. So schafft sie es irgendwie, dem vorgegebenen Rhythmus der Klasse zu folgen. Franzis ist trotzdem zufrieden hier zu sein; wir reden mit ihr, sie versteht es nicht. Das einzige, womit sie antwortet, ist mit einem großen Lächeln. Das ist ihre Art, sich auszudrücken und um deutlich zu machen, dass es ihr gut geht. Ich habe Franzis noch nie unzufrieden hier in der Schule erlebt.“

Wenn Franzis und ich am Nachmittag zu Hause sind, wartet die kleine Schwester ungeduldig auf Freya. Erst nach 15 Uhr klopft sie schließlich wie jeden Tag erleichtert an unsere Tür. Dann hat der Schulbus sie endlich wieder nach Hause gebracht. Jetzt kann das Spielen am Strand, mit Schwester oder mit Freundinnen endlich beginnen.

Über die Autorin:

Antje Allroggen hat an den Universitäten Bonn und Nancy (Frankreich) Kunstgeschichte, Philosophie und Komparatistik studiert. Seit dem Jahr 2000 arbeitet sie als Kultur- und Reisejournalistin für diverse ARD-Hörfunkanstalten, vor allem für den Deutschlandfunk. Journalistische Stipendien führten sie unter anderem nach Marokko und an die Duke University in North Carolina / USA. Mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern (zwei und acht Jahre) lebt sie für ein Jahr in Grand Baie/ Mauritius.

Vielen Dank an Frau Allroggen und den Deutschlandfunk, die uns erlauben, die großartigen Geschichten und Beiträge für unsere Leser zu veröffentlichen!