Jean-Clau­de Antoine ist einer der bekann­tes­ten Jour­na­lis­ten der Insel. Er arbei­tet als Autor der Zeit­schrift Week End in der Haupt­stadt Port Lou­is. Der Arti­kel wur­de ursprüng­lich im wun­der­ba­ren MERIAN Heft “Mau­ri­ti­us und Réuni­on” ver­öf­fent­licht. Wir freu­en uns über die Mög­lich­keit, ihn auch hier publi­zie­ren zu kön­nen. Ina Kro­nen­ber­ger über­setz­te den Text aus dem Französischen.

Ein Para­dies für die Welt” von Jean-Clau­de Antoine

Zum ers­ten Mal in mei­nem Leben habe ich Mau­ri­ti­us in den sieb­zi­ger Jah­ren ver­las­sen. Damals, ich ging auf eine Rei­se nach Euro­pa und Kana­da, war Mau­ri­ti­us eine klei­ne, kaum bekann­te Insel, umspült von den Tie­fen des Indi­schen Oze­ans. Jedes Mal, wenn ich im Aus­land den Namen mei­ner Hei­mat erwähn­te, muss­te ich eine geo­gra­fi­sche Lage­be­schrei­bung hin­ter­her­schi­cken. Ich nahm eine Welt­kar­te zu Hil­fe, führ­te mei­ne Fin­ger durch Euro­pa und den gesam­ten afri­ka­ni­schen Kon­ti­nent, bevor ich nach Osten Rich­tung Mada­gas­kar abzweig­te und den win­zi­gen Punkt erreich­te, der für Mau­ri­ti­us steht. Wenn ich heu­te auf Rei­sen bin und mei­ne Hei­mat erwäh­ne, bekom­me ich auf der gan­zen Welt die glei­che Reak­ti­on: „Sie kom­men aus Mau­ri­ti­us! Aus dem Para­dies!“ Mich wun­dert selbst, wie es mei­ne klei­ne Insel geschafft hat, bin­nen 30 Jah­ren zum Syn­onym für das Para­dies auf Erden zu werden.

Schon lan­ge bevor der Tou­ris­mus boom­te, genoss mei­ne klei­ne Insel – rund 60 mal 40 Kilo­me­ter groß – in eini­gen Tei­len der Welt hohes Anse­hen, wenn auch lan­ge nie­mand auf ihr Fuß fass­te. Ers­te Spu­ren ihrer Exis­tenz sind auf den mit­tel­al­ter­li­chen Kar­ten ara­bi­scher See­fah­rer zu sehen, die ihr den Namen Dina Aro­bi gaben. Offi­zi­ell ent­deckt wur­de die Insel im Febru­ar 1507 von den Por­tu­gie­sen, sie nann­ten sie Ilha do Cer­ne – Schwa­nen­in­sel – lie­ßen sich aber nicht auf ihr nie­der. Erst 91 Jah­re spä­ter kamen die Hol­län­der. Sie tauf­ten die Insel zu Ehren des nie­der­län­di­schen Prin­zen Moritz von Nas­sau auf den Namen Mau­ri­ti­us und mach­ten einen Teil der Küs­te urbar. Zucker­rohr, Rot­wild und Affen brach­ten sie mit auf die Insel, bau­ten Häu­ser und Fes­tun­gen. Gleich­zei­tig holz­ten sie die dich­ten Eben­holz­wäl­der ab, um das Holz nach Euro­pa zu schif­fen und rot­te­ten die flug­un­fä­hi­ge und zu ihrem eige­nen Unglück viel zu zah­me und an Fein­de nicht gewöhn­te Dron­te aus, den Vogel, der als Dodo pos­tum zum Natio­nal­sym­bol und Sou­ve­nir-Schla­ger der Insel avan­ciert ist. Als kein Edel­holz mehr zu holen und das Öko­sys­tem schwer geschä­digt war, ver­lie­ßen die Hol­län­der 1710 ihre Kolonie.

Fünf Jah­re blieb sie weit­ge­hend unbe­wohnt – bis die Fran­zo­sen sie annek­tier­ten. Aus Mau­ri­ti­us wur­de die Île de France, ihre Lage mach­te sie mit einem Mal zur gefrag­ten und umkämpf­ten Zwi­schen­sta­ti­on auf dem See­weg nach Indi­en. Im spä­ten 18. Jahr­hun­dert war die Haupt­stadt Port Lou­is ein eben­so wich­ti­ger Hafen wie Bom­bay oder Kal­kut­ta. Um die Kon­trol­le der Insel brach ein erbar­mungs­lo­ser Krieg zwi­schen Eng­län­dern und Fran­zo­sen aus. Fran­zö­si­sche Kor­sa­ren wähl­ten die Île de France zur Basis in ihrem Kampf gegen die eng­li­sche Mari­ne und Han­dels­flot­te. Schon damals war Mau­ri­ti­us bekannt und begehrt als „Stern und Schlüs­sel zum Indi­schen Ozean“.

Der ers­te bekannt gewor­de­ne Ver­gleich mit dem Para­dies kam spä­ter. Als Mark Twa­in im 19. Jahr­hun­dert Mau­ri­ti­us besuch­te, schrieb er, Gott habe zuerst die Insel erschaf­fen und dann das Para­dies nach ihrem Vor­bild. Aber wer lebt im Para­dies? Schon in den sieb­zi­ger Jah­ren wur­de ich bei mei­ner ers­ten Aus­lands­rei­se gefragt, wer die Mau­ri­tier sei­en, und selbst heu­te, wo die Welt zwar die wei­ßen Strän­de, das kla­re Was­ser und die kom­for­ta­blen Hotels mei­ner Insel kennt, haben vie­le Men­schen nur ein nebu­lö­ses Bild von ihren Bewoh­nern. Die Ant­wort ist damals wie heu­te die Glei­che: Der Mau­ri­tier denkt Fran­zö­sisch, schreibt Eng­lisch, spricht Kreol, eine Spra­che, die auf dem Fran­zö­si­schen basiert und mit eng­li­schen, indi­schen, ara­bi­schen, chi­ne­si­schen und afri­ka­ni­schen Aus­drü­cken gespickt ist. Er ist emp­fäng­lich für den Rhyth­mus eines afri­ka­ni­schen Tam­tam, wobei er zugleich die fei­nen Töne einer euro­päi­schen Gei­ge, einer indi­schen Zither oder einer chi­ne­si­schen Lau­te zu schät­zen weiß. Auf sei­nem Spei­se­zet­tel fin­den sich neben einem fran­zö­si­schen Ragout mit aller Selbst­ver­ständ­lich­keit chi­ne­si­sche Nudeln, ein indi­sches Cur­ry oder afri­ka­ni­sches Gemü­se. Es ist nor­mal für ihn, dass er auf dem Weg zu einer katho­li­schen Kir­che an einer mos­le­mi­schen Moschee vor­bei­kommt und meh­re­re hin­du­is­ti­sche Tem­pel und chi­ne­si­sche Pago­den pas­siert. Zu sei­nen Natio­nal­fei­er­ta­gen gehö­ren das christ­li­che Weih­nachts­fest, das hin­du­is­ti­sche Maha Shi­va­ra­tree, das chi­ne­si­sche Neu­jahrs­fest, der Unab­hän­gig­keits­tag und das Opfer­fest der Moslems.

Die mau­ri­ti­sche Bevöl­ke­rung ist das Ergeb­nis einer lang­wie­ri­gen und inten­si­ven Ver­mi­schung ver­schie­de­ner Ras­sen, Kul­tu­ren und Reli­gio­nen, vie­le davon kamen nicht frei­wil­lig auf die Insel. Die Hol­län­der hat­ten afri­ka­ni­sche Skla­ven im Schlepp­tau, als sie die Insel besie­del­ten, brach­ten aber auch Mela­ne­si­er aus ihren asia­ti­schen Kolo­nien mit. Aus Indi­en kamen Hand­wer­ker, genau­er gesagt Tami­len aus Pon­di­cher­ry, die beim Bau von Brü­cken und Stra­ßen hal­fen. Fran­zö­si­sche Ade­li­ge, die wäh­rend der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on auf der Insel Exil bezo­gen, kauf­ten Skla­ven aus Afri­ka und Mada­gas­kar und lie­ßen sie das Zucker­rohr auf Plan­ta­gen schnei­den, die ihnen die Kolonialregierung
für den Neu­an­fang unter­stellt hat­te. (Ihre alten Titel durf­ten die Herr­schaf­ten dabei behal­ten.) Als 1835 die Skla­ve­rei unter der Herr­schaft der Eng­län­der abge­schafft wur­de, wei­ger­ten sich die meis­ten nun frei­en Schwar­zen, wei­ter auf den Plan­ta­gen zu arbei­ten. Der eng­li­schen Kolo­ni­al­re­gie­rung blieb nichts ande­res übrig, als Land­ar­bei­ter aus Indi­en ins Land zu holen, um die Skla­ven zu erset­zen. Die Inder kamen zu Zig­tau­sen­den. „Enga­gés“, Frei­wil­li­ge, wur­den sie genannt, weil sie einen Arbeits­ver­trag beka­men, wäh­rend die Skla­ven noch mit Gewalt ver­schleppt wor­den waren. Den­noch waren ihre Arbeits­be­din­gun­gen kaum bes­ser. Vie­le indi­sche Kulis blie­ben ihr Leben lang auf der Insel, spar­ten das biss­chen Geld, das sie auf den Plan­ta­gen ver­dien­ten und kauf­ten dafür eige­nes Land.

Heu­te stel­len die Indo-Mau­ri­tier rund die Hälf­te der Bevöl­ke­rung. Zeit­gleich mit den ers­ten indi­schen Kulis kamen auch mos­le­mi­sche Kauf­leu­te nach Mau­ri­ti­us, die sich nach meh­re­ren Auf­ent­hal­ten end­gül­tig auf der Insel nie­der­lie­ßen. Chi­ne­si­sche Einwanderer
über­nah­men rasch die Kon­trol­le über den Ein­zel­han­del, indem sie in den ent­le­gens­ten Gegen­den der Insel Läden eröff­ne­ten. Nach­fah­ren der Inder, Fran­zo­sen, Chi­ne­sen, Ara­ber und der Skla­ven aus Afri­ka und Mada­gas­kar bil­den heu­te die gemisch­te, viel­fäl­ti­ge Bevöl­ke­rung der Insel: eine der weni­gen ech­ten mul­ti­kul­tu­rel­len Gesell­schaf­ten der Welt. Aller­dings ist auch die­se Gesell­schaft nicht frei von Pro­ble­men. Es gab in ihrer Geschich­te immer wie­der Res­sen­ti­ments, um nicht zu sagen eine abgrund­tie­fe Feind­se­lig­keit zwi­schen der schwar­zen Mehr­heit und der wei­ßen Min­der­heit. Über Gene­ra­tio­nen wur­de die­se Abnei­gung wei­ter­ver­erbt. Ihre Wur­zeln lie­gen in der Zeit der Skla­ve­rei, in der die Kolo­ni­al­her­ren, vom Gesetz pro­te­giert und von der Kir­che unter­stützt, die Skla­ven nicht als Men­schen, son­dern als Last­tie­re ansa­hen, über die sie nach Gut­dün­ken ver­fü­gen konn­ten. Auch nach dem Ende der Skla­ve­rei hiel­ten sich vie­le Wei­ße nach wie vor für Ange­hö­ri­ge einer über­le­ge­nen Rasse.

Doch im Lauf der Zeit hat sich die Per­spek­ti­ve ver­scho­ben. Ras­sen­zu­ge­hö­rig­keit und Über­le­gen­heits­fan­ta­sien ver­lo­ren an Bedeu­tung, wich­ti­ger wur­den Leis­tung, Kön­nen, Ver­dienst. Mit die­ser Hal­tung ging mei­ne Insel in eine der wohl bedeu­tends­ten Pha­sen ihrer Geschich­te: den Kampf um die Unab­hän­gig­keit in den sech­zi­ger Jah­ren. Wie nicht anders zu erwar­ten, stell­te sich die wei­ße Olig­ar­chie gegen die Unab­hän­gig­keit, wie sie sich Jah­re zuvor – eben­falls ohne Erfolg – gegen die Ein­füh­rung des all­ge­mei­nen Wahl­rechts gestellt hat­te. Die wei­ße Min­der­heit pro­pa­gier­te eine enge­re Ver­bin­dung und eine umfas­sen­de­re Abhän­gig­keit von der Kolo­ni­al­macht Groß­bri­tan­ni­en, wäh­rend das Gros der mau­ri­ti­schen Bevöl­ke­rung die Unab­hän­gig­keit for­der­te. Die Wah­len 1967 bescher­ten der Unab­hän­gig­keits­be­we­gung den Sieg, und ein Jahr spä­ter, am 12.März 1968, reih­te sich die Insel in die Rie­ge der frei­en Natio­nen ein. Mau­ri­tier jed­we­der poli­ti­schen Cou­leur waren nun dazu ver­ur­teilt, unab­hän­gig von der geo­gra­fi­schen, kul­tu­rel­len und reli­giö­sen Her­kunft ihrer Vor­fah­ren in einem Land zusam­men­zu­le­ben. Sie hat­ten und haben auch heu­te kei­ne ande­re Wahl, als mit­ein­an­der aus­zu­kom­men, sie müs­sen die Ver­gan­gen­heit hin­ter sich las­sen, um eine gemein­sa­me Zukunft auf­zu­bau­en. Auf mei­ner Insel gelingt das gut, wir haben gelernt, die Eigen­hei­ten unse­rer Nach­barn zu ent­de­cken und gern auch zu über­neh­men. Die Öff­nung hin zu den ande­ren hat mei­ner Mei­nung nach das bedingt, was Mau­ri­ti­us in den Augen der Welt zum Para­dies macht: sei­ne Gast­freund­schaft. Ich rede dabei nicht von antrai­nier­tem Lächeln oder von freund­li­chen Sät­zen, die in Kom­mu­ni­ka­ti­ons­trai­nings durch­ex­er­ziert wer­den, son­dern ich mei­ne eine ganz natür­li­che Nei­gung, eine angeborene
Freund­lich­keit, gepaart mit Neu­gier und Auf­ge­schlos­sen­heit gegen­über dem Gast, die den Mau­ri­tier dazu bewegt, den Besu­cher auf­zu­neh­men, ihm sein Land zu zei­gen und sei­ne Schön­heit mit ihm zu teilen.

Ver­ste­hen Sie mich nicht falsch, ich weiß Bescheid über die unan­ge­neh­men Neben­wir­kun­gen des Tou­ris­mus, ken­ne die Umwelt­schutz­dis­kus­si­on und Spe­ku­la­tio­nen über Gewin­ne und Ver­lus­te. Aber ich bin Mau­ri­tier, und des­halb kann ich nicht anders. Ich lade Sie ein, das Para­dies zu ent­de­cken. Und es mit mir zu teilen.